18. Januar 2023 / Aus aller Welt

160 Meldungen zu Gewalt und Missbrauch im SOS-Kinderdorf

Eine Studie über ein SOS-Kinderdorf förderte im Herbst 2021 Erschreckendes zutage. Zwei Dorfmütter sollen ihre Schützlinge gequält haben, hieß es darin. Jetzt zeigt sich: Das war noch nicht alles.

Die gemeldeten Vorfälle reichen bis in die 1960er Jahre zurück.

Ein SOS-Kinderdorf soll eine Zuflucht sein, ein sicherer Ort für Kinder, die es im Leben schwerer haben als andere. Genau dort aber sollen Minderjährige, die Schutz suchten, zu Opfern geworden sein. 160 Hinweise auf Gewalt und Missbrauch sind aus ganz Deutschland in den vergangenen Jahren beim SOS-Kinderdorfverein eingegangen.

«Diese 160 Meldungen stammen sowohl von aktuellen als auch ehemaligen Betreuten», sagte der Vorsitzende der vom Verein eingerichteten, unabhängigen Kommission zur Anerkennung und Aufarbeitung erlittenen Unrechts, Klaus Schäfer, der Deutschen Presse-Agentur in München. «Die darin gemeldeten Vorfälle reichen bis in die 1960er Jahre zurück.» In dieser Zeit wuchsen nach Angaben Schäfers mehr als 10.000 Kinder in Deutschland in SOS-Kinderdorffamilien auf.

Rund die Hälfte der Meldungen machten Fälle aus, in denen Kinder und Jugendliche sich gegenseitig Gewalt angetan hätten, sagte Schäfer. Es gebe aber auch Vorwürfe von Gewalt und sexuellem Missbrauch gegen Betreuer. «Dabei geht es vor allem um Fälle der gewaltgeprägten, sogenannten schwarzen Pädagogik, die es in den 1960er und 70er Jahren in vielen Erziehungseinrichtungen gab.» 

Anfang Oktober 2021 hatte eine Studie Schlagzeilen gemacht, die «Grenzüberschreitungen» zweier Betreuerinnen in einem Kinderdorf in Bayern nahelegen. Aus der Untersuchung des renommierten Missbrauchsexperten Heiner Keupp geht hervor, dass die beiden ehemaligen Mitarbeiterinnen ihnen anvertrauten Kindern «Leid» zugefügt haben.

Gemeinsames Duschen und Psychoterror

Bei den konkreten Vorwürfen soll es beispielsweise um gemeinsames Duschen gehen oder Hygienemaßnahmen, die die Schamgrenzen der Kinder verletzten. Außerdem soll ein fünf Jahre altes Mädchen allein in einen dunklen Keller gesperrt worden sein, ein Junge habe in Hausschuhen schlafen müssen, weil seine Dorfmutter sie ihm mit Klebeband an den Füßen befestigt hatte.

Die Staatsanwaltschaft Augsburg nahm Ermittlungen auf. Fünf Verfahren sind dort derzeit bekannt, wie ein Sprecher sagt; zwei davon wurden eingestellt, drei laufen noch. «Das Ziel der – noch offenen - Ermittlungen ist weiterhin die Aufklärung, ob es zu strafrechtlich relevanten Vorgängen gekommen ist.»

Weil der Kinderdorf-Verein selbst auch nicht untätig bleiben will, richtete er nach der Veröffentlichung der Studie die Kommission ein, der Schäfer vorsteht. Sie hat sich vorgenommen, die Fälle aufzuarbeiten. Am 10. März vergangenen Jahres nahm sie ihre Arbeit auf. Sie soll innerhalb von insgesamt zwei Jahren untersuchen, ob es beim SOS-Kinderdorfverein Strukturen gibt oder gab, die pädagogisches Fehlverhalten ermöglicht haben. «Wir müssen unbedingt transparent sein und Vertrauen wiedergewinnen», sagte die Vorstandsvorsitzende Sabina Schutter schon im vergangenen Jahr.

Endgültiger Bericht für Sommer 2024 geplant

Für diesen Sommer wird eine erste Einschätzung der Kommission erwartet, ein endgültiger Bericht ist für Sommer 2024 geplant. «In der Kommission werden wir genau hinsehen und untersuchen, wie SOS-Kinderdorf in der Vergangenheit mit allen Arten pädagogischen
Fehlverhaltens umgegangen ist», sagte Schäfer zum Start im vergangenen Jahr. «Dazu werden auch - soweit möglich - Berichte Betroffener von großer Bedeutung sein.»

Um mit möglichst vielen dieser Betroffenen sprechen zu können, geht die Kommission nun in die Offensive: Sie schaltete am Mittwoch große Anzeigen in mehreren Zeitungen, in denen Betroffene aufgerufen werden, Kontakt aufzunehmen. «Mit diesem Aufruf bitten wir betroffene Personen, die sich bisher nicht gemeldet haben, sich zu melden», heißt es darin. «Wir wissen, dass es nicht leicht ist, über erfahrenes Unrecht zu berichten, auch wenn die Taten unter Umständen schon lange zurückliegen.»

Die Kommission habe das Ziel, «in Einrichtungen von SOS-Kinderdorf e.V. geschehenes Unrecht herauszuarbeiten», steht in dem Aufruf. «Als Unrecht gelten körperliche, seelische und sexualisierte Gewalt durch Erwachsene sowie Übergriffe durch Gleichaltrige.» Ziel der Kommission sei es, Empfehlungen für eine Verbesserung des Kinderschutzes in den SOS-Kinderdörfern zu erarbeiten.

In SOS-Kinderdörfern sollen Kinder, deren Eltern sich aus verschiedenen Gründen nicht um sie kümmern können, trotzdem in einem familiären Umfeld aufwachsen können. Der Kinderdorf-Verein hat deutschlandweit 38 Einrichtungen und rund 4600 Mitarbeiter.


Bildnachweis: © Matthias Balk/dpa
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