10. Januar 2022 / Aus aller Welt

Wie verlorene Quietscheenten Forschern dienten

Vor 30 Jahren gelangten Tausende von Badetieren aus Plastik bei einem Unfall ins Meer. Eigentlich ein trauriger Beitrag zur Verschmutzung der Ozeane. Doch dieses Unglück hatte auch eine gute Seite.

Tausende Quietscheenten landeten im Nordpazifischen Ozean. Aus dem Unglück entstand ein «Datenschatz».

Der Unfall geschah am 10. Januar 1992, im Nordpazifischen Ozean. Ein Containerschiff, das von Hongkong aus mit Kurs auf die USA unterwegs war, geriet in einen schweren Sturm. Bei starkem Wind und hohen Wellen gingen mehrere Container der Fracht über Bord.

Mindestens einer von ihnen öffnete sich und goss seine Ladung ins Meer: aus Plastik. Quietscheenten, Biber, Schildkröten und Frösche, 29.000 an der Zahl.

An dieser Stelle könnte die Erzählung zu Ende sein, doch das eigentlich Interessante fängt hier erst an: Die Badetierchen gingen getrieben von Wind und Strömungen auf Reise, wurden an Küsten angespült, von Strandspaziergängern gesammelt und so schließlich zu einem Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Denn aus den Fundorten der Badetiere ließen sich ihre Reiserouten und -zeiten rekonstruieren - und damit auch zahlreiche Erkenntnisse über Strömungsverhältnisse in den Ozeanen gewinnen.

Netzwerk von Strandgutsammlern

Gesammelt hat die Informationen vor allem der US-amerikanische Ozeanograph Curtis Ebbesmeyer, heute im Ruhestand. Er hatte bereits einige Jahre vorher einen ähnlichen Schiffsunfall für die Sammlung wissenschaftlicher Daten genutzt. Bei diesem waren mehr als 60.000 Nike-Turnschuhe über Bord gegangen und in den folgenden Monaten an der Westküste der USA und Kanadas angespült worden. Er begründete ein Netzwerk von Strandgutsammlern, die ihm entsprechende Funde meldeten. Nach dem Badeenten-Unfall erreichten ihn erneut Berichte von Strandgutsammlern über Funde der Plastiktierchen. Deren Herkunft ließ sich über eine Prägung des Herstellers nachweisen.

«Der Unfall mit den Badetieren brachte der Forschung einen wahren Datenschatz», sagt Johanna Baehr, Ozeanographin an der Universität Hamburg. «Auf einen Schlag gab es tausende Datenpunkte - so viele wissenschaftliche Messgeräte würden wir sonst nicht einfach auf einmal aussetzen.»

Grundsätzlich ist die Idee, Meeresströmungen mit Hilfe schwimmender Messgeräte zu erforschen, nicht neu, im Gegenteil. «Der Einsatz von sogenannten Driftern ist eine der ältesten Methoden der Meeresforschung überhaupt», erzählt der Ozeanograph Jörg-Olaf Wolff von der Universität Oldenburg. So habe bereits 1864 der Forscher Georg von Neumayer von der damaligen deutschen Seewarte in Hamburg vor Kap Hoorn eine Flaschenpost über Bord eines Schiffes werfen lassen. Darin die Bitte an den Finder, Fundort und Zeit an den Forscher zurückzumelden. Die Flasche wurde später in Australien gefunden. «Das ist mehr als 150 Jahre her und hat dazu beigetragen, großskalige Meeresströmungen besser zu verstehen.»

Heute präzisere Messgeräte

Heute setzen Forschende viel präzisere Messgeräte ein, die mit GPS ausgestattet sind und Daten wie Temperatur, Salzgehalt des Wassers oder Luftdruck erfassen und an Satelliten funken können. «Es gibt auch freitreibende Geräte, die wiederholt von der Oberfläche auf ein und zwei Kilometer Tiefe absinken und dabei Daten sammeln, sagt Wolff. Im Vergleich dazu lieferten Drifter wie die Badetiere zwar nur sehr ungenaue Daten. «Aber das ist besser als nichts, vor allem weil die Daten umsonst generiert wurden.» Digitale Messgeräte seien teuer und könnten nicht in annähernd großer Zahl eingesetzt werden.

Wohin reisten die Gummi-Tierchen nun? Die Analyse der Funddaten ergab, dass sie zunächst in der Ringströmung des Nordpazifiks gegen den Uhrzeigersinn kreisten - von Sitka an der Küste Alaskas, entlang der Aleuten, vorbei an der Halbinsel Kamtschatka und schließlich über den Pazifik zurück entlang der US-Westküste hoch bis Alaska. 1994, 1998, 2001 und 2003 erreichten Ebbesmeyer Berichte von Funden aus Sitka, was nahelege, dass die Tierchen einige Runden im Kreis gedreht hatten. Andere entkamen dem Wirbel und gelangten bis nach Hawaii und Australien.

Vom Pazifik in den Nordatlantik

«Zu den spannendsten Erkenntnissen gehört vielleicht, dass die Badetiere vom Pazifik in den Nordatlantik getrieben sind», sagt Baehr. «Das haben entsprechende Modelle zwar vorhergesagt, aber die Tiere haben belegt: "Das kann wirklich passieren".» Tatsächlich fanden sich Exemplare Anfang der 2000er Jahre an der Ostküste der USA sowie in Schottland und England. Sie waren durch die Beringstraße nordwärts ins Nordpolarmeer bis nach Grönland in den Nordatlantik gedriftet - ob eingefroren im Packeis oder oben auf den Eisschollen sitzend, ist offen. «Diese Route war eine interessante Bestätigung, dass es dort eine Oberflächenströmung gibt, die eine solche Strecke zurücklegt», sagt Wolff.

Der Ozeanforscher von der Universität Oldenburg untersuchte seit 2016 in einem interdisziplinären Team mit Hilfe von Driftern, wie sich Müll in der Nordsee verteilt. Die Forschenden warfen dazu insgesamt 65.000 kleine Holzdrifter in die Nordsee. Diese waren mit einer Nummer gekennzeichnet und mit der Bitte versehen, Fundstücke mit der Angabe von Ort und Zeit zu melden. Eines der überraschenden Ergebnisse des Projekts: Die Strömungsverhältnisse in der Nordsee können sich unter bestimmten Bedingungen umkehren. «Wir bekamen plötzlich Meldungen aus England. Damit war klar, dass die Holzdrifter nicht mehr wie üblich gegen den Uhrzeigersinn, sondern mit dem Uhrzeigersinn getrieben waren», sagt Wolff. «Das wusste man vorher nicht.»

Untersuchungen wie diese könnten dabei helfen, die Verbreitung von Plastikmüll besser zu verstehen und Konzepte zur Vermeidung zu entwickeln. Studien mit driftenden Messgeräten können darüber hinaus wichtige Vor-Ort-Daten liefern für die Entwicklung von Wettermodellen. «Das kann letztlich die Wettervorhersage oder, vor dem Hintergrund des Klimawandels, auch die Vorhersagen für kommende Jahrzehnte verbessern», sagt Baehr.

Das derzeitige Schicksal der Plastiktierchen ist ungeklärt. «Ich glaube nicht, dass von denen noch welche unterwegs sind. 30 Jahre Wind, Wellen und UV-Strahlung lassen das Plastik spröde werden, vermutlich sind die zu Mikroplastik zerbröselt», sagt Ozeanograph Wolff. Johanna Baehr hingegen mag nicht ausschließen, dass die eine oder andere Ente nicht doch noch irgendwo auftaucht, zum Beispiel aus dem Eis. «Die Gummieenten sind erschreckend lange haltbar, wie alles Plastik, das ins Meer gelangt.»


Bildnachweis: © picture alliance/dpa/Symbolbild
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