6. Oktober 2021 / Aus aller Welt

Seelischer Lockdown: Wenn die Pandemie zum Dauerzustand wird

Man nennt es Cave-Syndrom: Auch wenn inzwischen vieles wieder möglich ist, wagen sich manche Menschen nicht aus ihrer inneren Höhle. Ein Psychologe erklärt, warum uns Über-Vorsicht schadet.

Eine Frau steht in ihrer Wohnung an einem Fenster. (Archivbild)

Restaurants und Kinos sind offen, das Theater spielt vor vollem Haus und sogar Feiern im Club ist für Geimpfte und Genesene möglich - aber nicht alle Menschen fühlen sich wohl damit.

Während einige die wiedergewonnenen Freiheiten genießen und andere eher vorsichtig bleiben, finden manche aus der erzwungenen Isolation gar nicht mehr zurück ins Leben, wie der Frankfurter Psychologe Ulrich Stangier erklärt: «Sie bleiben in ihrem Schneckenhaus stecken.»

Wie viele Menschen in Deutschland vom sogenannten Cave-Syndrom betroffen sind und warum, will Prof. Stangier mit einer Online-Befragung an der Goethe-Universität herausfinden. Bisher gibt es solche Daten nur aus den USA. Die American Psychological Association hatte im Februar 2021 mehr als 3000 erwachsene Amerikaner befragt. Dabei sagten 46 Prozent, dass sie sich nicht damit wohlfühlen, zu ihrem Alltag vor Corona zurückzukehren. 49 Prozent gaben an, dass es ihnen schwer fällt, zwischenmenschliche Begegnungen wieder zuzulassen.

Gewöhnt an weniger sozialen Austausch

«Social distancing» war das Schlagwort der Pandemie, physische Kontakte zu reduzieren das Gebot der Sunde. Was bis dahin stets positiv bewertet wurde - rausgehen, Menschen treffen - wurde zum Risiko und damit negativ besetzt. Der Belohnungswert zwischenmenschlicher Begegnungen sei hierdurch geringer geworden, erklärt Stangier. Kochen, Spazierengehen oder Filmeschauen traten an ihre Stelle.

«Nach 18 Monaten haben wir uns daran gewöhnt, dass es wenig sozialen Austausch gibt», sagt Stangier. «Wir haben gelernt, Lust und Freude bei anderen Aktivitäten des Alltags zu empfinden.»

Das Cave-Syndrom sei ein normales Phänomen, kein pathologisches, betont Stangier. «Es ist keine Krankheit, sondern eine vorübergehende Anpassungsreaktion.» Stangier nennt es eine vorübergehende «soziale Anhedonie»: das Unvermögen, Freude an sozialen Begegnungen zu empfinden. Dabei sei der Kontakt mit anderen Menschen eigentlich ein Grundbedürfnis: «Soziale Isolation ist für den Menschen ein starker Stressor», sagt der Psychologe.

Stangier geht davon aus, dass die Phase bei den Allermeisten von allein vorübergeht, vielleicht nach zwei bis drei Monaten. «Es gibt aber auch Menschen, die dauerhafte Schwierigkeiten erleben, aus der Isolation wieder rauszukommen.» Er schätzt diese Gruppe auf vielleicht fünf Prozent. Meist seien es Menschen, die schon vorher sehr zurückgezogen gelebt haben. Bei ihnen habe die Corona-Zeit den Rückzug verstärkt und zu einer Depression oder sozialen Angststörung geführt, die nicht von allein zurückgeht.

Ein Phänomen, das auch Generationenforscher Rüdiger Maas beobachtet hat. Seit Beginn der Pandemie fragt sein Team am privaten Institut für Generationenforschung in Augsburg alle zwei Wochen mindestens 1500 repräsentativ ausgewählte Menschen, wie sie die Corona-Pandemie erleben. Die Daten belegen seiner Einschätzung nach eindeutig, dass es ein Cave-Syndrom gibt.

Im Sommer gab etwa ein Zehntel der Menschen ab 40 Jahren an, bestimmte Dinge aus den Lockdown-Zeiten zu vermissen. Knapp sieben Prozent der sogenannten Babyboomer (ab 56 Jahre) und etwa acht Prozent der Generation Y (26 bis 39 Jahre) wollten ihren Pandemie-Alltag sogar am liebsten beibehalten. Fast die Hälfte der unter 27-Jähringen fühlte sich im Sommer gestresst davon, die wiedergewonnene Freiheit ausleben zu müssen.

Tendenz zum Rückzug wegen der Pandemie verstärkt

Seither haben sich die Zahlen nur geringfügig verändert, wie eine Langzeitauswertung zeigt, die der Nachrichtenagentur dpa exklusiv vorliegt. Einzige Tendenz: Im Laufe der Monate stimmten dem Satz «Ich fühle mich unter Druck gesetzt, viele Dinge zu unternehmen, wenn es wieder möglich ist» immer weniger junge Menschen zu. Die Zustimmungswerte bei Älteren hingehen stiegen an.

«In eineinhalb Jahren haben sich Verhaltensmuster eingeschlichen, die sich verfestigt haben», sagt Maas. Die Tendenz zum Rückzug sei allerdings nicht allein der Pandemie geschuldet: «Corona war nicht die Ursache, sondern wirkte wie ein Verstärker oder Beschleuniger.» In den frühen Umfragen 2020 habe sich gezeigt, dass viele Menschen die Kontaktbeschränkungen gut fanden, sagt Maas - zum Schutz vor Ansteckung, «aber auch, weil sie nicht mehr das Gefühl hatten, etwas zu verpassen: Phlegmatismus war sozial erwünscht.»

Junge Menschen und Kinder sind nach Maas' Einschätzung vom Cave-Syndrom besonders betroffen: Sie erlebten Corona in einer prägenden Phase, eineinhalb Jahre Kontaktbeschränkungen machten einen viel größeren Anteil ihrer Lebenszeit aus. Hinzu komme, dass junge Menschen ohnehin mehr Zeit im digitalen Raum verbringen. «Unabhängig von der Corona-Pandemie ist eine Zunahme extremer Formen des sozialen Rückzugs zu beobachten», sagt Maas. Die Digitalisierung untergrabe schon lange das Bedürfnis, Menschen zu treffen.

Unterschiedliche Anpassungsfähigkeit der Menschen

Stangier sieht das ähnlich: Zwar sei das Bedürfnis nach sozialen Kontakten bei Jugendlichen größer. «Die Angst vor einer Infektion war immer geringer als der Wunsch nach Kontakten», sagt Stangier, daher die vielen Treffen im Park, daher die illegalen Partys. Aber auch unter den Jugendlichen erlebten viele eine Verunsicherung bei der Rückkehr zur sozialen Normalität. «Insbesondere in der Pubertät sind Jugendliche besonders vulnerabel für die Entwicklung von sozialen Ängsten, da kann das Abgeschnittensein von der Peergroup die Entwicklung sozialer und emotionaler Kompetenzen empfindlich stören.»

Wer sich wieder zurück in normale soziale Kontakte begibt und wer weiterhin kaum das Haus verlässt - das liege vor allem an der psychologischen Flexibilität, glaubt Stangier. «Die Anpassungsfähigkeit der Menschen ist sehr unterschiedlich.» Wer flexibel ist, kann geistig und emotional von Pandemie in Normalität umschalten. Wer sich nicht so gut aus dem Gefühl von Vereinzelung und Abgetrenntsein in der Pandemie lösen kann, braucht länger Zeit, insbesondere wenn er sich in sozialen Situationen ohnehin schwer tut.

Dazu kommt, dass niemand weiß, was der Herbst und Winter bringt, so dass viele auf die Lockerungen nur «mit angezogenen Handbremse» und «in Habachtstellung» reagieren. Klar ist: «Die Pandemie hat durch den Digitalisierungsschub die Vereinzelung verstärkt», sagt Stangier. Viele kehren zum Beispiel dauerhaft nicht aus dem Homeoffice ins Büro zurück - was allerdings auch mit realen Vorteilen dieser Arbeitssituation zu tun hat. «Aber auch das angeborene Bedürfnis nach Kontakt ist hierdurch bedroht», sagt Stangier.

Prinzipiell habe die Pandemie nicht zu einem Desinteresse an anderen Menschen geführt, glaubt der Psychologe - im Gegenteil: «Den meisten ist eher klar geworden, wie wichtig der Kontakt und die Beziehung zu anderen Menschen ist.»


Bildnachweis: © Fabian Sommer/dpa
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