11. August 2022 / Aus aller Welt

Tödliche Dosis Insulin gespritzt - BGH spricht Ehefrau frei

Aktive Sterbehilfe ist in Deutschland strafbar. Man darf einem Sterbewilligen eine Überdosis bereitstellen - aber einnehmen muss er sie selbst. Jetzt rütteln die obersten Strafrichter an diesem Grundsatz.

Der BGH hat eine Frau freigesprochen, die ihrem bettlägerigen Ehemann auf dessen Wunsch eine tödliche Überdosis Insulin gespritzt hatte.

Eine Frau hilft ihrem bettlägerigen Ehemann beim Suizid, indem sie ihm selbst eine tödliche Überdosis Insulin spritzt - und hat sich damit laut Bundesgerichtshof (BGH) nicht strafbar gemacht. Die obersten Strafrichter hoben ihre Verurteilung wegen Tötung auf Verlangen auf und sprachen sie frei. Das Verhalten der Krankenschwester im Ruhestand stelle sich als straflose Beihilfe zum Suizid dar, heißt es in dem am Donnerstag veröffentlichten Beschluss des 6. Strafsenats in Leipzig vom 28. Juni. Patientenschützer reagierten entsetzt, sie sehen einen Dammbruch. (Az. 6 StR 68/21)

In Deutschland ist die Selbsttötung nicht strafbar und die Beihilfe dazu im Grundsatz ebenfalls nicht. Anders ist es mit der aktiven Sterbehilfe: «Ist jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen», heißt es in Paragraf 216 des Strafgesetzbuchs.

Das war bisher so verstanden worden, dass zum Beispiel ein Angehöriger dem Sterbewilligen ein tödliches Medikament ans Bett stellen darf. Einnehmen muss dieser es aber selbst.

Mann litt seit Jahren an chronischen Schmerzen

Bei dem jahrzehntelang verheirateten Ehepaar aus der Nähe von Magdeburg war der Sterbewunsch des Mannes schon länger ein Thema. Er litt seit Jahren an chronischen Schmerzen, Diabetes, Depressionen und etlichen anderen Krankheiten und war zuletzt ein Pflegefall.

An einem Tag im August 2019 geht es ihm so schlecht, dass er zu seiner Frau sagt: «Heute machen wir's.» Er bittet sie zunächst, ihm sämtliche Tabletten im Haus zusammenzutragen, und schluckt sie, nachdem die Frau sie für ihn aus den Verpackungen gedrückt hat. Er selbst ist dazu wegen seiner Arthrose an den Händen nicht mehr in der Lage. Dann fordert er sie auf, noch alle vorrätigen Insulin-Spritzen zu holen. Die Frau gibt ihm sechs Spritzen, an denen er im Verlauf der Nacht stirbt. Einen Arzt informiert sie wie besprochen nicht.

Das Landgericht Stendal hatte die Frau im November 2020 zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Sie habe aktiv handelnd die Spritzen gesetzt. Ihr Mann habe sein Leben in ihre Hand gelegt.

Nach Auffassung der BGH-Richterinnen und -Richter wird das «den Besonderheiten des Falles nicht gerecht». Sie sehen die Einnahme der Tabletten und die Insulin-Spritzen als «einheitlichen lebensbeendenden Akt». Über die Ausführung habe allein der Mann bestimmt, der auch an den Tabletten gestorben wäre - nur später. Er habe auch nicht darum gebeten, doch noch den Rettungsdienst zu rufen.

Grundsätzliche Zweife an Strafvorschrift geäußert

Der Senat äußert darüber hinaus aber auch grundsätzliche Zweifel an der Strafvorschrift des Paragrafen 216. Die Richter verweisen auf das große Sterbehilfe-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Februar 2020. Dieses hatte damals das Verbot der sogenannten geschäftsmäßigen Sterbehilfe (Paragraf 217 StGB) für nichtig erklärt, mit dem die Politik vor allem den Sterbehilfevereinen das Handwerk legen wollte. Jeder Mensch habe ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben - und das schließe die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und dabei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen.

Die BGH-Richter deuten an, dass diese Grundsätze aus ihrer Sicht auf Paragraf 216 übertragbar sein müssten: Eine Ausnahme solle zumindest in den Fällen gemacht werden, «in denen es einer sterbewilligen Person faktisch unmöglich ist, ihre frei von Willensmängeln getroffene Entscheidung selbst umzusetzen, aus dem Leben zu scheiden, sie vielmehr darauf angewiesen ist, dass eine andere Person die unmittelbar zum Tod führende Handlung ausführt».

Die Deutsche Stiftung Patientenschutz ist alarmiert. Vorstand Eugen Brysch sieht die Grenze zwischen Suizidbeihilfe und aktiver Sterbehilfe verschwimmen. «Der Bundesgerichtshof hat mit seiner Entscheidung das strafrechtliche Verbot der Tötung auf Verlangen de facto aufgehoben», sagte er. Damit sei «der Damm zur aktiven Sterbehilfe gebrochen». Er forderte den Bundestag auf, für Klarstellung zu sorgen. «Das Töten durch andere muss weiterhin verboten bleiben. Sonst nimmt der gesellschaftliche Druck auf alte, pflegebedürftige, schwerstkranke und behinderte Menschen zu.»

Derzeit ringen die Abgeordneten um eine Nachfolgeregelung für den gekippten Paragrafen 217. Im Raum stehen drei fraktionsübergreifende Entwürfe, die im Juni erstmals im Plenum diskutiert wurden.


Bildnachweis: © Uli Deck/dpa
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